Sonny Stitt: Die schwere Last
des Parker-Erbes

Als Bebopper der ersten Stunde galt er als und war er wirklich bis an sein Lebensende der authentischste Sachwalter des Erbes von Parker, Gillespie und Konsorten. Als Saxophonist wechselte er zunächst und für eine Zeitlang eher nolens denn volens vom geliebten Alt auf das Tenor über, bevor er die vermeintliche Zwangslage auch als Herausforderung begriff und auch auf dem tieferen Horn eine eigene und eigenständige Klangsprache entwickelte. Seine Begegnungen mit gleich beiden der "Erfinder" der "Battles" genannten Saxophon-Schlachten fügten der zeitweiligen Modewelle ein paar weitere Highlights hinzu, und wenn er auch weder zu den Gründervätern noch zu den Aushängeschildern des Funk-Jazz gehörte, so gliederte er doch dem immer wieder angeführten Kanon der gängigen Titel des schwer blues-gospelnden Sub-Genres sporadisch immer wieder ein paar Liebhaber-Leckerbissen an: Wurde auch zumindest für eine ganze Reihe von Jahren für Sonny Stitt das Diktum vom "zweiten Charlie Parker" mindestens ebenso zum Fluch, wie es eigentlich und ursprünglich ein Kompliment war, so war er auf der anderen Seite doch auch das lebende Beispiel dafür, wie man auch unter einer schweren Last nicht nur seine musikalische Würde bewahren, sondern darüber hinaus aus der Not so etwas wie einen kreativen Gewinn ziehen kann.

Ein Bebopper auf Dschungel-Tour

Daß Genre-Fixierungen und Stil-Grenzen auch im Jazz nicht mehr sind als ein grober Anhaltspunkt zur Übersicht und bei näherem Hinsehen und konkreter Auseinandersetzung so durchlässig, fließend und bisweilen sogar so töricht werden wie überall sonst, ist ein offenes Geheimnis, und wo wir uns nicht zu unrecht angewöhnt haben, Sonny Stitt als Be- und späten Bopper par excellence anzusehen, da war er zwar in der Tat einer der repräsentativsten Vertreter von offener Quinte und hektisch sich überschlagender Rhythmus-Brüche, aber nichtsdestoweniger auch einer der verbindlichsten Traditionalisten, den die ohnehin eher von Kritikern und Theoretikern von außen her behaupteten Antagonismen von Revolution und Reaktion, von absolutem Blick nach vorn und ebenso absolutem Blick zurück in etwa so berührten wie den Mond die Tatsache, daß ihn dann und wann ein Hund anbellt. Und so war es denn allenfalls für Erbsenzähler und Beckmesser eine Überraschung, als "Verve" 1974 ohne jegliche Vorankündigung, ohne jegliche discographische Angaben und unter dem nichtssagenden Titel "Previously Unreleased Recordings" einen Sonny Stitt auf den Markt warf, der dazu angetan war, allzu festgefahrene Hör- wie Sortier-Gewohnheiten gehörig durcheinander zu schütteln. Denn zwar war es nur für eine (heute leider längst aus dem Katalog gestrichene) LP, daß er sich – und noch dazu ausschließlich – Ellington-Klassikern widmete, doch dafür hat sie für den, der sie besitzt, bis heute nichts von ihrer hinreißenden Formschönheit verloren und sagt in insgesamt rund 45 Minuten mehr über die Verwurzelung selbst der gegen den Strich gebürstetsten Avantgardisten von einst in der Geschichte als manche noch so dicke zu Papier gebrachte Grundsatz-Diskussion.

Zahlen, Daten, Fakten

Der Apfel, sagt man, fällt nicht weit vom Stamm: Geboren am 2. Februar 1924 in Boston, wächst Edward "Sonny" Stitt nach dem Umzug der Eltern zunächst in das Provinznest Saginaw im US-Bundesstaat Michigan und später in die Auto-Metropole Detroit in einer höchst musikalischen Familie auf – der Vater ist Musik-Professor, der später auf einer New Yorker Welt-Ausstellung zur Eröffnung einen 1000-Kehlen-Chor leiten soll, die Mutter spielt nicht nur zum eigenen Vergnügen Piano und Orgel, sondern gibt auch Unterricht, und wo der Bruder als Konzert-Pianist zumindest zur lokalen Größe wird, da wird es die Schwester als Sängerin in Broadway-Shows. Was Wunder da, daß auch Sonny bereits mit sieben Piano lernt, bevor ihm seine Eltern ein paar Jahre später mit einer Klarinette nicht nur sein erstes Blas-Instrument kaufen, sondern damit den Weg auch nachhaltig vorzeichnen. Bereits mit 15, inzwischen übergesattelt zum Alt-Saxophon und logischerweise zunächst erst einmal Johnny-Hodges- wie Benny-Carter-Fan, hat Sonny Stitt sein zweites Schlüssel-Erlebnis, als er zum ersten Mal auf Platten Jay McShanns Charlie Parker hört, und vier Jahre später sein drittes, als er sein Idol in einer Tournee-Band in Kansas City persönlich trifft und für einen Abend zusammen mit ihm auf der Bühne steht, ein Abend, an dessen Ende "Bird" der Legende zufolge festgestellt haben soll: "Du klingst wie ich", was den Beginn einer wunderbaren, wenn auch nur gelegentlich praktizierten Freundschaft markiert.

Nach einem Zwischenspiel in Billy Eckstines legendärer Bebop-Big-Band 1945, während dessen der mittlerweile schon häufig als "zweiter Charlie Parker" apostrophierte Altist mit Dizzy Gillespie in einem Zimmer wohnt, wird Stitt 1946 Mitglied in der Big Band des Trompeters ebenso wie dem sich anschließenden Sextett, spielt mit Kenny Clarke und den "Bebop Boys" und wechselt schließlich, weil er – so jedenfalls eine ganz Reihe von Quellen – der permanenten Vergleiche mit Parker überdrüssig ist, Ende der 40er zum Tenor über und gelegentlich sogar zum Bariton-Saxophon.

Doch das Jazz-Age insgesamt und die Bop-Ära im besonderen fordern auch hier ihren Tribut, und so legt Stitt eine – vermutlich seinen beginnenden und lebenslangen Problemen mit Alkohol wie Drogen – geschuldete künstlerische Pause ein, bevor er 1949 zusammen mit dem Hard-Honker Gene Ammons ein Septett gründet, das rund zwei Jahre besteht und nicht zuletzt durch die Saxophon-Schlachten der beiden Gruppen-Chefs die Aufmerksamkeit auf sich zieht, und während Stitt innerhalb weniger Jahre allein bei "Prestige" 27 Alben einspielt, sollen es im Laufe der Jahre auf den unterschiedlichsten Labels über 100 nur unter eigenem Namen werden, von denen als Star-Solist in anderen Konstellationen ganz zu schweigen.

Bezeichnenderweise ist es erst nach Parkers Tod 1955, daß Sonny Stitt auch wieder auf das Alt-Saxophon zurückgreift und es bald darauf wieder verstärkt in den Mittelpunkt stellt, ohne dabei freilich das Tenor an den Nagel zu hängen. 1957 und 1959 mit "Jazz At The Philharmonic" auf Tournee sowie während der ganzen 50er und 60er als Solist lokaler und oftmals ad hoc zusammengestellter Rhythmus-Gruppen mittlerweile eine feste Größe im Jazz, wird Stitt nach erneuter kurzer Zusammenarbeit mit Dizzy Gillespie 1958 nach dem Ausstieg Coltranes 1960/1 für kurze Zeit zweite Frontstimme im Miles-Davis-Quintett, dessen Auftritt in Stockholm vom Oktober 1960 als Live-Mitschnitt nicht zuletzt wegen des ebenfalls auf Platte dokumentierten Davis-Auftritts an gleicher Stelle ein gutes halbes Jahr zuvor noch mit Coltrane wegen der reizvollen Vergleichsmöglichkeiten zu den gehegten und gepflegten Archiv-Kostbarkeiten nicht nur eingefleischter Davis-Fans gehört.

Ein "Bird"-Memorial auf dem Newport-Festival von 1964 sieht ebenso wie erst recht ein "Tribut to Parker"-Abend an gleicher Stelle ein Jahrzehnt später Stitt nun nicht mehr als vermeintlichen Imitator, sondern als einen der anerkannten wie gefeierten Exponenten des Vermächtnisses des tragischen Königs des Bebop. Zugleich freilich hat der inzwischen auf seinen beiden Instrumenten ausgeprägte Personal-Stilist auch die aktuellen Entwicklungen des Jazz in modifizierter Form in sich aufgenommen, weist sich auf nicht nur der einen oder anderen LP und dabei ganz besonders in seiner Zusammenarbeit mit den beiden Organisten "Brother" Jack McDuff und Don Patterson auch als angefunkter Hard-Bopper aus, wird auf internationalen Tourneen wie beispielsweise 1964 mit Clark Terry und Jay Jay Johnson durch Japan ebenso gefeiert wie auf nationalen wie beispielsweise mit dem ihm eher konträren Cool-Tenoristen mit Zoot Sims und feiert schließlich 1969 für einige Auftritte ein Wiedersehen mit dem nach sieben Jahren wegen Drogenmißbrauchs soeben aus dem Gefängnis entlassenen alten Kumpel Gene Ammons. Seit 1968 versiert auch auf dem "Varitone" genannten elektrischen Saxophon, wird der inzwischen als "elder statesman" geachtete Altist 1971/72 die Saxophon-Stimme des Sextetts "Giants Of Jazz" um das Bop-Triumvirat Dizzy Gillespie, Thelonious Monk und Art Blakey, ist andererseits jedoch trotz weltweiten Renommes, das sich in den Staaten sogar in zwei "Grammy"-Nominierungen niederschlägt, während der 70er auch immer wieder gezwungen, zwischenzeitlich unter dem Dach von Big Bands finanzielle Zuflucht zu suchen. Auftritte beispielsweise mit Milt Jackson ebenso wie mit Muddy Waters in den späten 70ern und frühen 80ern schließlich belegen Stitts trotz aller Bop-Verwurzelung stilistische Über-Parteilichkeit, und als er am 22. Juli 1982 in seiner Heimatstadt Boston nur wenige Wochen nach einer weiteren Tournee durch Japan nicht zuletzt den Spätfolgen seiner langjährigen Drogen-Abhängigkeit erliegt, da erfüllt sich selbst da noch die leichte Tragik eines immer wieder unterbewerteten Lebens, als ihm der eigentlich sichere posthume Einzug in die "Down Beat"-"Hall Of Fame" plötzlich doch noch verwehrt wird, weil im gleichen Jahr auch Art Pepper stirbt.

Starker Klang und abgeklärter Professionalismus

Stitt war kein Innovator und erst recht kein Revolutionär, kein Stilbildner und kein Schule-Gründer, kein Charismatiker, kein Super-Star und nicht einmal jemand, der seinem Instrument neue Aspekte oder einen neuen Stellenwert abgerungen hätte. Aber doch erspielte er sich in über vier Jahrzehnten eine stetig wachsende Reputation, die weit über die des solide-brillanten Handwerkers hinausging, was für sich allein schon mehr als die halbe Miete gewesen wäre. Denn auch oder gerade weil – wovon noch detaillierter zu reden sein wird – der – so "Boston Phoenix"- und "Rolling Stone"-Kolumnist Bob Blumenthal – "blasende Dämon" über Jahre und fast Jahrzehnte hinweg gegen den übermächtigen Schatten Charlie Parkers anzuspielen hatte, entwickelte er sich zur unahängig-souveränen Persönlichkeit, deren "Bird"-Aspekt nur eine der zahlreichen Facetten war: "Stitt verfügt über das Vokabular der Tradition, aus der er schöpft, derart meisterhaft, daß er selbst das progressivste und anspruchsvollste Publikum zu überzeugen versteht. Seine Musik handelt von einer allen gemeinsamen Realität, und seine Statements treffen in ihrer allgemeinverbindlichen Zugänglichkeit stets auf den Punkt", beschied denn auch bereits 1962 US-Kritiker Robert Levin, der englische Trompeter Ian Carr attestiert in seinem Platten-Führer "Jazz – The Rough Guide": "Trotz seiner kräftezehrenden Kämpfe gegen Alkohol- und Drogen-Sucht war Stitt ein hochgeschätzter und extrem konstanter Interpret, und besonders im Zusammenspiel mit anderen Musikern war er eine dominierende Autorität und stets auf Anhieb identifizierbar", und der "Penguin Guide To Jazz On CD" konstatiert so lapidar wie treffend: "Stitts abgeklärter Professionalismus bewirkte, daß er nie weniger als stark klang" – eine Qualität, die ihn schließlich mit vollem Fug und Recht an die Seite des strahlenden Dreigestirns Gillespie, Monk und Blakey stellte und ihn 1971 mit ihm sowie dem Posaunisten Kai Winding und dem Bassisten Al McKibbon als "Giants Of Jazz" zu einem Konzert der Berliner Jazztage in die Philharmonie brachte, dessen Erwähnung noch heute jedem, der dabei gewesen ist, Tränen der Erinnerung in die Augen treibt.

Von Horn zu Horn im Wechselschritt

Es war ursprünglich – will man denn den Quellen Glauben schenken, die als Motiv dafür einzig die Abgrenzung zu Parker sahen – ursprünglich eher die Not als die Tugend, die Sonny Stitt Ende der 40er zunächst zögerlich, aber im Laufe der Zeit immer häufiger und auch immer lieber zum Tenor-Saxophon greifen ließ, und so, wie Ravel zwar immer Ravel ist, sich die Klangfarbe seiner impressionistischen Piano-Träumereien jedoch eindeutig abhebt von der seiner großorchestralen Tondichtungen ebenso wie auch der seiner Kammermusik, und so, wie der Lyriker Rainer Maria Rilke eine durchaus andere Sprache spricht als der Prosaiker, so entwickelte auch der – so der "Penguin Guide To Jazz On CD" –"Formulierer von makellosem Klang und makelloser Hingabe" nach und nach auf seinem eigentlich nur Ausweich-Instrument einen ganz eigenen und seinem Alt-Spiel zwar nicht diametral entgegengesetzten, aber von ihm doch völlig unterschiedlichen Stil. Und wo zunächst zwei Seelen in einer Brust nicht nur gewohnt, sondern da auch noch im Widerstreit gelegen hatten, da begriffen sie sich im Laufe der Zeit als das, was sie wirklich waren – als die nur unterschiedliche Ausprägung ein und derselben Persönlichkeit. "Stitt ist mit Abstand die Autorität aller Parker-Nacheiferer schlechthin, doch weitaus mehr er selbst ist er auf dem Tenor, auf dem er einen stompend-männlichen Klang hat", dividierte so schon im Mai 1959 "Down Beat" in einer Ausgabe, die sich ausschließlich mit den "Reeds" genannten Klappen-Instrumenten beschäftigte, die zwei verschiedenen Sonny Stitts auseinander, der "New Grove Dictionary Of Jazz" resümiert: "Das Tenor-Saxophon eröffnete ihm neue musikalische Gedankengänge, und seine Statements mit dem ausgeprägtesten Charakter lieferte er auf ihm ab", und Harvey Siders schließlich nahm Mitte der 70er den Umweg über Europa, um Stitts instrumentale Doppel-Position festzuklopfen: "Der rührige deutsche Jazz-Experte Joachim Ernst Berendt trifft es ziemlich genau, wenn er eine bestimmte Art von Tenoristen als ‚Lester Young plus Bebop‘ definiert, denn genau das umreißt Sonny Stitt akkurat: ein ‚Birder‘ auf dem Alt und Pres plus Bop auf dem Tenor", urteilte der "Down Beat"-West-Coast-Herausgeber und spezifizierte: "Während er zwischen Alt und Tenor hin- und herwandert, zwischen Bird und Pres, macht er uns zu Zeugen einer hochkarätigen Klang-Kunst, die ihn auf beiden Instrumenten eigenständig und unverwechselbar macht".

Zermalmt unter der Bürde "Bird"

Denkt man an Alt-Saxophon und Bebop, so fällt automatisch ein Name, dessen Mythos und Ikonographie die wirkliche Person schon längst überschattet haben, und so, wie sich mittlerweile selbst Provinzzeitungs-Redakteure mit dem 198. Interview mit Eric Burdon oder Keith Richard über durchsoffene Nächte und Groupie-Exzesse an große Namen dranhängen, um wenigstens einmal im Leben aus der eigenen Bedeutungslosigkeit herauszutreten, und so, wie in diesem Kontext auch Robert Altmans "Kansas City" eine zwar sentimentale Erinnerung an seine Jugendzeit war, aber letztlich doch nur einmal mehr die inzwischen mehr als ausgelutschten Klischees der tollen Hechte Lester Young und Coleman Hawkins aufwärmte, so hetzen G’schaftl- huber und Wichtigtuer selbst heute noch die Legende "Bird" zu Tode, ohne daß – sieht man einmal von Clint Eastwoods beeindruckendem Film-Porträt von 1987 ab – auch nur ein minimaler neuer Aspekt ins Spiel kommt. Doch das nur nebenbei – ist von Alt-Saxophon und Bop die Rede, dann ist fast schon als Stereotyp der Name Charlie Parker derart präsent, daß es denn auch kaum einen Artikel und kaum ein Kapitel in der Fachliteratur über Sonny Stitt gibt, die nicht als Kern- und Angelpunkt den Vergleich mit "Bird" bemühen. Und auch, wenn Stitt immer wieder darauf hingewiesen hat, daß er seinen Stil unabhängig von beziehungsweise gleichzeitig mit dem verstorbenen Halbgott entwickelte, so ist doch die von Jahrzehnt zu Jahrzehnt gedankenlos weitergereichte Formel vom Ersatzkassen-Parker noch immer ebenso verbreitet wie in ihrer Brachial-Pauschalität unzutreffend wie die von Nietzsche als dem Wegbereiter der Nazis: Der italienische Star-Kritiker Arrigo Polillo beispielsweise apostrophierte ihn noch in den 70ern in seinem Standard-Werk "Jazz – Geschichte und Persönlichkeiten der afroamerikanischen Musik" fast schon exemplarisch als "halben Parker", Reclams Jazz-Führer als weiteres Beispiel weiß einzig zu berichten: "Sonny Stitt gilt als einer der besten modernen Saxophonisten im ‚Charlie-Parker-Stil‘", und selbst der sonst so nüchtern-objektive "New Grove Dictionary Of Jazz" läßt sich zu einem globalen "Parker-Imitator" verleiten.

Da klingt es denn in diesem Kontext auch fast schon wie ein Aufschrei, als Autor David B. Bittan im Mai 1959 in einem "Down Beat"-Artikel unter der programmatischen Überschrift "Nennt micht nicht ‚Bird‘!" feststellte: "Fast schon zermalmt von den beständigen Parker-Assoziationen, wünscht sich Stitt nichts sehnlicher, als daß man endlich aufhörte, ihn dauernd mit Bird zu vergleichen", und Stitt selbst mit den Worten zitierte: "‚Bird war einer meiner Lieblings-Musiker, und natürlich hatte er Einfluß auf mein Spiel. Aber er beeinflußte jeden Jazz-Musiker, und sogar Veteranen machten Anleihen bei ihm. In diesem Sinne glaube ich nicht, daß ich allzusehr nach Bird klinge – ich mag vielleicht ein paar seiner Charakteristika haben, aber ich kann niemand anders sein als ich selbst".

Vom eigenen Stil im fremden Haus

Sonny Stitt und der lange Schatten Charlie Parkers – "die Ähnlichkeit mit Bird war in einer Jazz-Welt, in der Individualität alles ist, ein Kreuz, an dem Stitt schwer zu tragen hatte", stellt treffend Bob Blumenthal fest, Ian Carr konstatiert: "Die Frage nach seiner musikalischen Abhängigkeit von Parker wurde für ihn zum Dornen-Weg", und in der Tat könnte, wer es nicht besser wüßte oder sich dem Jazz via Fachbücher und Synopsen nähert, bisweilen glauben, Stitt sei nichts anderes gewesen als ein vom Parker’schen Stromstoß zum Leben erweckter Bebop-Frankenstein. Doch auch hier liegt – wie immer – die Wahrheit gottlob nicht in Formeln, Schlagworten und dem grobmaschigen Bausch und Bogen, sondern der detaillierten und differenzierenden Draufsicht, denn wo schon nicht nur ein Wunderkind, sondern fast so etwas wie die Reinkarnation des reinen Geistes sein müßte, wer – allen Gesetzmäßigkeiten der menschlichen Psyche zum Trotz – zur eigenständig-ausgeformten Persönlichkeit ohne Orientierungshilfe und zumindest initiierende Identifikationsfigur wird, da hatte auch Stitt natürlich seinen Parker gehört sowieso, doch ihn darüber hinaus auch noch auf Anhieb verstanden wie wohl kein zweiter und dadurch so, wie selbst das fruchtbarste Samenkorn verdorrt, wenn der Boden, auf den es fällt, nichts hergibt, bei entsprechender Disposition hingegen im Laufe der Zeit blühende Landschaften freisetzt, in ihm sein "Sesam, öffne dich" gefunden, nach dem – wenn man es denn so pathetisch ausdrücken will – seine musikalische Seele nachgerade dürstete. Oder, um es mit den Worten des "Penguin Guide To Jazz On CD" zu sagen: "Die Ausformung seines Stils, der sich durchaus ziemlich unabhängig von Bird herausgebildet haben mag, war ein berühmter Streitpunkt, doch wie auch immer – bereits Ende der 40er verfügte Stitt souverän über das Bebop-Vokabular und spielte es mit dem gleichen Geschick wie nur irgendjemand", attestiert der englische Plattenführer. "Stitt findet ganz einfach seine eigene Stimme in Parkers Sprache und kann ein Solo ganz aus dessen Ideen heraus konstruieren, aber er spielt sie so, daß man überzeugt ist, daß er jede einzelne ganz für sich allein entdeckt hat", assistiert US-Kritiker Martin Williams in seinem Buch "Jazz Masters In Transition", und Don De Michael schließlich hatte bereits in den 60ern die spätpubertäre Vorstellung von Originalität durch einen erwachsenen "point of view" ersetzt: "Man könnte sagen, Parker hat das Haus errichtet, aber dann ist Stitt eingezogen und hat es so eingerichtet, daß es seinem eigenen Geschmack entspricht", brachte der damalige "Down Beat"-Mitherausgeber die Frage von "to bird or not to bird" auf den Punkt und sezierte: "So ist dieses Haus, obwohl er es nicht selbst entworfen und gebaut hat, nichtsdestoweniger seins, und es spiegelt seine Persönlichkeit weitaus mehr wider als die seines Ahnherrn".

Jam-Sessions als Schlacht und Kommunion

"Stitt liebte es zu jammen, wobei es ihn ganz besonders reizte, sich mit anderen Bläsern zu messen, und seine Fähigkeit, sich im Zusammenspiel mit adäquaten Partnern selbst zu übertreffen, rangierte gleichauf mit ihren Antworten auf seine katalytische Präsenz", stellte "Rolling Stone"-Kolumnist Bob Blumenthal Ende der 80er noch einmal rückblickend fest und traf damit einen Nagel mehr auf den Kopf, denn auch, wenn in der Regel die Tradition der "Battles" genannten Schlachten von Tenoristen, die in den 50ern und frühen 60ern fast zur Mode-Welle aufschwappten, auf Dexter Gordon und Gene Ammons in ihrer Zeit in Billy Eckstines Bebop-Groß-Kapelle zurückgeführt wird, so nutzte doch auch Sonny Stitt jede sich ihm bietende Gelegenheit, sich – im positivsten Wortsinne – einzumischen und aus nahezu jeder Begegnung förmlich Funken zu schlagen. Und wo seine Platten-Begegnung "Salt And Pepper" mit Ellingtons langjährigem Star-Tenoristen Paul Gonsalves vom September 1963 schon längst zu den Klassikern des mittlerweile ebenfalls legendären "Impulse"-Labels zählt, da wurden logischerweise seine gemischten Doppel mit den beiden Urvätern Gordon und Ammons zu besonderen Herausforderungen wie Höhepunkten.

"Eine Jam-Session mit Sonny ist Kommunion, Schlacht, Ego-Crash und Lackmus-Test, und gerade das ist das Schöne daran: einfach mit jemandem ganz Großem zu spielen", erinnerte sich denn auch Alt-Kollege Art Pepper in seiner Autobiographie "Straight Life", und während sonst die Stitt’schen Schlachten eher Zufalls-Begegnungen waren, da institutionalisierte er sie sozusagen, als er mit Ammons gleich eine feste Gruppe gründete. "Der Einklang von Stitt und Ammons war einfach zuviel. Es klang irgendwie wie ein Saxophon mit Überdimension, das aus einem Truck voller Töne herausröhrte", beschrieb der farbige Schriftsteller LeRoi Jones einst die Wirkung der beiden "Wehe, wenn sie losgelassen"-Saxophonisten, und "Down Beat"-Kritiker Marc Crawford schwärmte 1961 hingerissen von einem Auftritt der beiden musikalischen Streithammel in Chicago: "Wie ein Paar Kampf-Jets zischen sie los, heben ab von den entgegengesetzten Enden der Startbahn, schnellen hoch auf Fight-Distanz, gehen in Querlage, um zu Ausfällen anzusetzen, und repräsentieren dabei zwischen sich gleich ein ganzes Jahrhundert Musik".

Ausgedehnte Blues-Bummel mit dem Bruder

Zwei Sorten von Menschen gibt es – die einen wuseln ihr Leben lang immer irgendwo rum und kommen doch niemals irgendwo richtig zu Potte, die anderen machen viel und drücken allem, was sie getan haben, ihren eigenen Stempel auf, und auch, wenn es vielleicht werbetaktisch zwar clever, realiter aber doch einen ganzen Zacken zu hoch gegriffen war, als die "Prestige"-Nachlaßverwalter Mitte der 70er für ihr Doppelalbum "Giants Of The Funk Tenor Sax" Stitt mit seinem "’Nother Fu’ther" in einer Reihe mit ausgewiesenen Honkers von Gene Ammons über Willis Jackson bis hin zu Stanley Turrentine auflisteten, so war doch seine LP "Stitt Meets Brother Jack" mit Jack McDuff vom Februar 1962 ein weiteres Highlight ebenso in der persönlichen Karriere des – so Bob Blumenthal – "aufrichtigen Straßen-Kriegers" wie auch des Sub-Genres "Funk Jazz", dem er 1968 mit der LP "Made For Each Other" mit dem Organisten Don Patterson einen freilich würdigen Nachfolger hinterherschickte. Denn sicherlich war Stitt alles andere als ein klassischer Funker vom Schlage eines Lee Morgan oder eines Cannonball Adderley, eines Horace Silver oder auch eines frühen Herbie Hancock, und ebenso sicherlich hätte er sich vermutlich eine derart einseitige Festlegung auch verbeten, doch andererseits machte er – und das zu unser aller Nutz und Frommen – aus seinem Herzen auch dann keine Mördergrube, wenn die hochexplosive Mischung aus Blues und Gospel und Bop angesagt war, und wo sich Robert Levin einst noch eher kryptisch aus der Affäre zog mit der Formel: "Stitt auf dem Tenor ist immer zumindest berührt und meistens sogar durchdrungen vom Blues, und der Tenor-Orgel-Kontext unterstreicht besonders den fundamentalsten Aspekt seiner Konzeption", da spricht der "Penguin Guide To Jazz On CD" in seiner Rezension des Treffens mit Brother Jack Klartext: "Mit McDuff im Schlepptau unternimmt Stitt einen ausgedehnten Blues-Bummel, und insgesamt offerierten seine Sax & Rhythm-Dates zwar keine größeren Herausforderungen als einige vertraute Standards mit Blues-Touch, aber die Ergebnisse waren vitale und meisterhafte Kostproben eines der großen Bopper in seinen besten Momenten".

Der beste Kontrahent seiner selbst

Wer war Sonny Stitt? Versuchen wir eine sortierende Zusammenfassung, indem wir sagen, was er nicht nur war: Er war weit mehr als nur der klassische Bebopper und wußte so Ellington ebenso schlicht schön zu interpretieren wie angelegentlich und besonders in der Saxophon-Orgel-Verdichtung knackig-kernig zu funken, weit mehr als nur der eindimensionale Altist und setzte so dem eher süß-weichen Klang seines Erst-Instruments auf dem Tenor die knallharte Männlichkeit entgegen, und vor allem weit mehr als nur die mit Kohlepapier durchgepauste Kopie Charlie Parkers, der ihm eine Woche vor seinem Tod, so will es die Legende und so der Wortlaut des immer wieder kolportierten Zitats, "die Schlüssel zum Königreich" übergeben hatte. Und wo Stitt als fast schon exemplarischer Jammer jede Session im Handumdrehen zum "Battle"-Feuerwerk umfunktionierte, da spielte er bisweilen sogar nicht nur sozusagen externe Kontrahenten an die Wand – "beginnend auf dem Alt und dann zum Tenor wechselnd, schlägt er nachgerade eine Schlacht mit sich selbst", bescheinigte Bob Blumenthal sozusagen exemplarisch "Sonny’s Tune" von der gleichnamigen LP von 1956, und präg- nanter als in diesen fünfeinhalb Minuten hat sich nur selten ein Musiker selbst definiert.

AUSGEWÄHLTE DISCOGRAPHIE


als Leader:

  • Memorial (Savoy, 1946, 2 CD)

  • Sonny Stitt (Prestige/OJC, 1949/50)

  • Kaleidoscope (Prestige/OJC, 1950/2)

  • Sits In With The The Oscar Peterson Trio (Verve, 1957/9)

  • Previous Unreleased Recordings – Plays Ellington (Verve, ca. 1960)

  • Stitt Meets Brother Jack (Prestige/OJC, 1962, m. Jack McDuff)

  • Boss Tenors In Orbit (Verve, 1962, m. Gene Ammons)

  • Sonny’s Blues (Ronnie Scott’s Jazz House, 1964, live at Ronnie Scott’s, London)

  • Autumn In New York (Black Lion, 1967)

  • Made For Each Other (Delmark, 1968, m. Don Patterson)

  • Verve Jazz Masters 50: Sonny Stitt (1956-1962)

  • The Prestige Collection: Sonny Stitt Soul Classics (OJC, 1962-1972)

als Sideman:

  • Miles Davis: Live In Stockholm (Dragon, 1960, 2 CD)

  • Gene Ammons: Boss Tenors – Straight Ahead From Chicago (Verve, 1961)

  • Giants Of Jazz: Giants Of Jazz In Berlin 1971 (EmArCy)