Modern Jazz Quartet: Botschaften
von Blues und Bach

 

Sie machten den Cool noch ein bißchen cooler, hoben die Trennung zwischen Verstand und Gefühl zugunsten einer höheren Einheit auf, und so ganz nebenbei, wenn freilich auch alles andere als unbeabsichtigt, brachten sie den Jazz der europäischen Konzert-Klassik und eben jene Klassik auch dem Jazz ein ganzes Stückchen näher: Die vier Männer, die als "Modern Jazz Quartet" so etwas wie ein eingetragenes Warenzeichen für sich waren, bildeten über mehr als vier Jahrzehnte hinweg nicht nur die mit Abstand beständigste Formation des Jazz, sondern zugleich auch eine der profiliertesten, extravagantesten und experimentierfreudigsten.

Die Gunst der Fuge

Das "Modern Jazz Quartet" – vier Männer, die die strenge Formschönheit der Musik-Tradition und die urwüchsige Spielfreude des Jazz unter einen, besser gesagt: unter ihren Hut bogen, einen unverkennbaren Gruppen-Klang entwickelten und so dem Jazz auch Kreise eroberten, die sonst unter Umständen nie mit ihm in Berührung gekommen wären. Denn zwar hatten schon immer Jazz-Musiker gelegentlich Abstecher in die Bereiche des europäischen Musik-Erbes unternommen – Benny Goodman beispielsweise hatte, was für jeden Klarinettisten äußerst reizvoll ist, unter anderem Mozarts wunderschönes Klarinetten-Konzert KV 622 eingespielt, Django Reinhardt, dem die – so einst die "Berliner Morgenpost" – "elder statesmen des Jazz" – mit "Django" einen ihrer ersten und zugleich schönsten Titel widmeten, hatte sich mit Bachs Violinkonzert D-Moll auf der Gitarre auseinandergesetzt, und Dave Brubeck schließlich experimentierte gern mit Anleihen bei der so vertrackten wie intellektuell ausgeklügelten Harmonik der Alten Welt. Doch das freilich waren stets eher Marginalien denn Mittelpunkt, und vor allem: Wo Goodman wie Reinhardt wie Brubeck Weiße waren, da rückte mit dem unbestrittenen Quartett-Kopf, dem klassisch ausgebildeten Pianisten John Lewis, erstmals ein Schwarzer den abendländischen Wurmfortsatz in den Focus und kam immer wieder auf seinen Dreh- und Angelpunkt zu spielen: die Klassik, genauer: das Barock, noch genauer: Bachs Fugen und Toccaten.

Zahlen, Daten, Fakten

Aller Anfang ist – allem Volksmund zum Trotz – nicht immer schwer, doch will man die Geburtsstunde dessen, was später als Legende in die Geschichte eingehen sollte, genau festlegen, so gerät man allerdings wirklich in Schwierigkeiten: Einige Nachschlagewerke datieren sie auf 1951, andere insistieren dagegen auf 1952 mit der Veröffentlichung der ersten Platte, die unter dem Gruppenkürzel "MJQ" erschien, was damals noch die Doppel-Interpretation "Milt Jackson Quintet" wie auch "Modern Jazz Quartet" zuließ. Aber wie auch immer: Es ist Ende der 40er Jahre, als in der Rhythmus-Gruppe der so berühmten wie desaströsen Dizzy-Gillespie-Big-Band mit dem Vibraphonisten Milt Jackson, dem Pianisten John Lewis, dem Bassisten Ray Brown und dem Schlagzeuger Kenny Clarke die Urmitglieder die Köpfe zusammenstecken und nach neuen Wegen sinnen. Und das fruchtbare Spannungsfeld, aus dem die Gruppe immer wieder ihre Inspiration ziehen sollte, kristallisiert sich schnell heraus: Hatte Lewis eine kühl-klassische Musik-Ausbildung absolviert, die ihn schließlich 1953 sogar den "magister artium" ablegen ließ, so schöpfte Jackson aus dem hitzigen Erbe von Blues und Bebop – eine Kombination, die – und noch dazu zu jener Zeit – nachgerade für allgemeine Aufmerksamkeit prädestiniert ist.

So liest sich denn auch die weitere Vita wie die Erfolgsbilanz einer florierenden Aktiengesellschaft: Bereits 1954 gewinnt die Gang den "Down Beat"-Kritiker-Poll für die beste Combo-Einspielung des Jahres, 1955 bringt – nach dem Ausscheiden Ray Browns und dem Eintritt von Percy Heath noch in der Gründungsphase – mit dem Drummer-Wechsel von Kenny Clarke zu Connie Kay die einzige Umbesetzung der ganzen Band-Geschichte. Der Label-Wechsel von "Prestige" zu "Atlantic" Mitte der 50er Jahre und nach drei erfolgreichen Platten erlaubt noch weitere künstlerische Freiheit, und eine erste Deutschland-Tournee beschert 1957 auch hierzulande ausverkaufte Häuser und umjubelte Auftritte. Über zwei Jahrzehnte lang insgesamt bildet schließlich die Gruppe einen der Eckpfeiler des modernen Jazz, und so ist es nicht nur für eingefleischte Anhänger ein Schock, als die Band 1974 ihre Trennung bekanntgibt und sie mit einem grandiosen Abschiedskonzert in New York – vorübergehend, wie wir heute wissen – besiegelt.

Denn wo "The Last Concert" das Ende einer Ära sein sollte, da stand es – zumindest aus der Rückschau betrachtet – einzig für eine kurzfristige Zäsur – daß alte Liebe nicht rostet, war auch zu jener Zeit schon nicht mehr ganz neu, und so ist es bereits 1976/77, daß sich die – so US-Kritiker Martin Williams in seinem Buch "Jazz Masters In Transition" – "exzeptionelle Gruppe" erneut zu sporadischen Auftritten zusammenfindet, ehe sie sich Anfang der 80er endgültig reformiert und den zweiten Teil der Erfolgsgeschichte einläutet.

Und einmal mehr ist es schließlich egal, was sie spielen, ist nur noch wichtig, wie sie es spielen, und als sie beispielsweise auf dem Berliner Jazzfest 1983 zum 1038. Mal "Vendome" interpretieren, da ist das nicht nur ein akustisches, sondern auch ein optisches Ereignis: Es war schon faszinierend zu sehen, wie Jackson und Lewis wie ein in Frieden altgewordenes Ehepaar durch minimales Mienen-Spiel die Marschrichtung festlegten und bei jeder einzelnen Note auf ihren Gesichtern gleich ganze Filme von Erinnerungen abliefen.

"Schöner musizieren" mit der Lewis-Legierung

Es war eine Erfolgsgeschichte sondersgleichen, aber es war nicht – wie sonst nicht unbedingt selten im Jazz – ein Taumel von Höhepunkt zu Höhepunkt, sondern kontinuierliche und eher unspektakuläre Arbeit, die aus der Kapelle mit dem eher unscheinbaren Namen im Laufe der Zeit eine der beständigsten und zuverlässigsten Gruppen werden ließ, eine Arbeit, die aus dem Zusammenspiel wie der produktiven Reibung der Temperamente erwuchs und sich immer weitere Felder eroberte: Die Interpretation von Standards machte aus jedem einzelnen von ihnen eine kleine klingende Kostbarkeit, die ihrer Eigenkompositionen sowieso, und so mancher Titel aus der Feder von John Lewis diente für jede Menge von anderen Jazz-Größen als Vorlage für Improvisationen der unterschiedlichsten Couleur, wobei besonders "Django" von Bill Evans über Oscar Peterson und Roland Kirk bis hin zu Wynton Marsalis immer wieder und bis auf den heutigen Tag die Prominenz anzog.

Doch auch jenseits des eigentlichen Genres brauchte sich die – so einst "Down Beat"-Autor Don DeMicheal – "ständig in neue Bereiche vorstoßende musikalische Organisation" um ihre Reputation keine Gedanken zu machen: Der Soundtrack zu Roger Vadims "Sait on Jamais – No Sun In Venice" koppelte sich vom Film ab und erreichte als eigenständiges kleines Gesamt-Kunstwerk Kult-Status, die Zusammenarbeit mit Sinfonie-Orchestern wie Kammer-Ensembles nahm schon Ende der 50er als "Third Stream" eine Klangfarbe vorweg, die erst Mitte der 70er durch Mike Gibbs und Gary Burton verbindlich werden sollte, die Platte "Blues On Bach" wies schon im Titel die Legierung aus, die Lewis zutiefst am Herzen lag, und als sie eines Tages schließlich sogar mit Jacques Loussier und seinen "Swingle Singers" ins Studio gingen, da war das eigentlich nichts anderes mehr als die zwangsläufige Fortsetzung der Kunst der Fuge mit anderen Mitteln. Doch bei aller Neigung zu akademischen Ausflügen war und blieb das "Schöner Musizieren"-Kollektiv, dem eine Berliner Kritik 1983 bescheinigte, Musik für Kaviar-Liebhaber zu machen, immer auch die klassische Jazz-Gruppe, die angelegentlich des Zusammenspiels Star-Solisten wie beispielsweise Jimmy Giuffre oder auch Sonny Rollins für das erst anläßlich des 50jährigen "Atlantic"-Jubiläums 1998 wiederveröffentlichte Album "The Modern Jazz Quartet At Music Inn, Guest Artist: Sonny Rollins" das solide swingende Trampolin für ihre Luftsprünge unter die Füße spannte.

Kooperative als finanzielle Zwecklösung

Das "Modern Jazz Quartet" war John Lewis, und John Lewis war das "Modern Jazz Quartet". Aber dennoch: "Ursprünglich waren wir nichts als eine Studio-Gruppe für eine Aufnahme, die Milt einspielen wollte", erinnerte sich der – bewußt als solcher quotierte – "Chef" später an die Anfänge, "in der Gillespie-Band hatte die Rhythmus-Gruppe oft lange Passagen für sich allein, was Milt Gelegenheit gab, jenseits der wenigen Soli zu improvisieren, die er sonst durch die Arrangements hatte. Und ehe wir uns richtig zusammentaten", berichtete Lewis weiter, "arbeiteten wir alle für verschiedene Leader. Milt war der Chef des Quartetts, als es sich gründete, aber er konnte es sich nicht leisten, uns andere zu bezahlen. So entstand die Idee der Kooperative, die seither unsere Grundlage ist."

Flotter Vierer mit Seitensprüngen

Eine Gruppe ist – die Weisheit der Binse läßt grüßen – immer mehr als die Summe ihrer Teile, und noch dazu eine Gruppe wie der flotte Vierer um die beiden Flügelstürmer an Piano und Vibraphon, und vor allem bei den beiden virulenten Köpfen Lewis und Jackson lag es auf der Hand, daß sie bei allem kreativen Aufgehen in ihrem Quartett bisweilen gern auch ein bißchen fremdgingen, sich nebenher Betätigung für ihren schier unerschöpflichen Ideen-Reichtum suchten: Jackson produzierte weiterhin unter eigenem Namen wie als Gast-Star so renommierter Größen wie Miles Davis, Cannonball Adderley oder John Coltrane Platten so wie Karnickel den Nachwuchs, gab 1974 mit seinem Jazz-Charts-Erfolg "Goodbye" mit Hubert Laws zumindest vordergründig den Ausschlag zur Trennung und präsentierte sich 1987 beispielsweise auch auf dem Berliner Festival solo. Lewis hingegen blieb sich und seiner innersten Neigung treu, gab Unterricht als Musik-Professor, rief mit dem bereits erwähnten "Third Stream" gleich ein ganzes Orchester ins Leben, das zugleich auch als erstes gleichermaßen im Jazz wie in der Klassik verwurzelt war, schrieb jede Menge Film-Musiken und Kompositionen für so renommierte Ensembles wie das Juilliard String Quartet und fügte schließlich eines Tages mit seiner Version den 123 anderen von Bachs "Wohltemperiertem Klavier" eine weitere Variante hinzu.

Basisdemokratie bis zur Abendgarderobe

"MJQ", nicht nur ein nicht nur im "inner circle" wohlklingendes Kürzel, sondern drei Buchstaben, die zum Markenzeichen wurden wie später die rausgestreckte Zunge der "Stones" im Rock, eine Chiffre für fast so etwas wie ein mittelständisches Unternehmen: "Basisdemokratisch" zwar – wie wir heute sagen würden – in der Entwicklung und Verwaltung von Ideen, aber mit genau festgelegter Aufgaben-Ökonomie, was das Praktische anging: "Es war wirklich so", leuchtete einst Star-Kritiker Leonard Feather das Innenleben der Gruppe aus, "alle Vier setzten sich zusammen und diskutierten jeden einzelnen Aspekt ihrer Aktivitäten aus: Was für Anzüge sie tragen würden, welchen Bogen sie musikalisch umspannen wollten, wo und was sie spielen würden. Mit Lewis als musikalischem Kopf war Percy Heath verantwortlich für die Garderobe, Conny Kay hatte für Transport und Unterkünfte zu sorgen, und Jackson stand in der Pflicht für PR, Ansagen auf der Bühne und artverwandte Aufgaben."

Friede, Freude, Achtbarkeit

Sie küßten und sie schlugen sie – nicht immer freilich und nicht überall stießen die vier Großmeister des Kontrapunkts im Jazz auf ungeteilte Anerkennung und Zustimmung, denn so manchem Kritiker und auch so manchem Möchtegern-Kritiker waren die Orientierung an der europäischen Disziplin und das stets gepflegte Auftreten eher suspekt. Auf den Berliner Jazztagen 1965 beispielsweise wurden sie sogar von einem Publikum, das der unumstößlichen Überzeugung war, einen politischen Anspruch einfordern zu müssen, erbarmungslos ausgepfiffen, und wo der englische Jazz-Publizist John Forham in seiner Fibel "Jazz" dem "No Sun In Venice"-Sound- track stellvertretend für das Gesamt-Werk bescheinigt, er beweise, "wie ausdrucksstark Understatement sein kann", da hatte Arrigo Polillo schon 1975 eher ironische Untertöne angeschlagen: "Dieses Quartett sollte viele Jahre lang feierliche, friedliche und ‚achtbare‘ Musik spielen – zum Entzücken des konservativen Publikums und der elitären Konzertbesucher der Alten Welt, für die der Jazz umso akzeptabler wird, je mehr er versucht, der europäischen klassischen Musik zu ähneln", spöttelte der renommierte italienische Kritiker in seinem Buch "Jazz – Geschichte und Persönlichkeiten der afroamerikanischen Musik" im Kapitel über den Cool-Jazz.

Schwarze Kammermusik

Wo es generell schon in jedem einzelnen Fall eine Gratwanderung ist, sinnliche Faszination in Worte zu fassen, ohne dabei – auf der einen Seite – in rein subjektive Gefühle oder andererseits in blutleere Intellektualität abzugleiten, da stand man 1956 plötzlich und über Nacht vor einem besonders schweren Problem – "Fontessa" hieß das Elf-Minuten-Stück in Suiten-Form aus der Feder von – logo – John Lewis, das nicht nur Milt Jacksons Vibraphon bisweilen fast schon so fragil klingen ließ wie die Glasharmonika in Mozarts C-Dur-Rondo, sondern das seine musikalische Inspiration aus der Commedia dell’ arte schon auf dem Cover der gleichnamigen LP signalisierte, das bald darauf sogar Joachim Ernst Berendt in einer Gemeinschaftsproduktion mit Lewis selbst und dem Ballett des Théatre de Paris als Fernseh-Ballett inszenierte und das das innerste Anliegen Lewis‘ zu einem ersten von einer ganzen Reihe weiterer Höhepunkte kumulieren ließ: "Schwarze Kammermusik" überschrieb der "Spiegel" noch 1983 so schlicht wie treffend einen Artikel anläßlich des Europa-Comebacks der Band, und Kritiker Werner Burkhardt umriß scharfkantig das Profil des akademischen Pianisten, indem er eine der Wurzeln seiner Leidenschaft für die Alte Welt freilegte: "Erst ein Europa-Aufenthalt brachte Lewis auf den Trip zur künstlerischen Identität und – das muß sich nicht ausschließen – zum internationalen Erfolg. In Plätzen und Schlössern, in ‚Concorde‘ und ‚Versailles‘ fand dieser ‚Amerikaner in Paris‘ gespielt, was er auch ausdrücken wollte, was er mit dem Jazz allein nicht ausdrücken konnte – Symmetrie, Durchsichtigkeit und das Strenge der klassischen Form. Wahlverwandt dünkten ihn alle Künste des Abendlandes," so Burkhardt weiter, "eleganten Fußes und ohne dabei ins Schwitzen zu geraten, folgt er den Pfaden barocker Polyphonie, schreibt inventionsähnliche Einleitungen und freundliche Fugen".

So war es denn auch bereits 1959, daß sich der kompositorische Bildungsbürger einen Herzenswunsch erfüllte und mit dem "Modern Jazz Quartet" und dem "Beaux Arts String Quartet" zwei Gruppen, wie sie unterschiedlicher kaum hätten sein und wie sie sich doch besser hätten kaum ergänzen können, für eine inzwischen leider schon längst nicht mehr erhältliche LP zu einem Doppel-Vierer im Studio zusammenbrachte.

Zwischen allen Strömen

Reden wir noch einmal über den "Third Stream", jene – wenn auch nur vergleichsweise kurze – "dritte Strömung" zwischen Jazz und abendländischer Musik-Tradition, deren Fixierung zwar auf den weißen Praxis-Theoretiker Gunter Schuller zurückgeht, zu dessen treibenden Kräften jedoch – und das an exponierter Stelle – auch der Farbige John Lewis gehörte, eine Synthese freilich, die mit dem in etwa zur gleichen Zeit aktuellen Mode-Trend der Schmier-Streicher hinter Jazz-Improvisationen in etwa so viel zu tun hat wie Remarques "Im Westen nichts Neues" mit einem Konsalik. Es war das Spannungsfeld zwischen europäischer Konzertklassik einerseits und dem klassischen Blues andererseits, in dem sich die – so Ende der 80er Peter Müller in der "Berliner Morgenpost" – "großen Vier des ambitionierten Wohlklangs", die stets nur im Smoking auftraten, zumindest teilweise bewegten. Doch oftmals sind Grenzen ohnehin nur theoretischer Natur und geraten mir nichts, dir nichts ins Fließen, wenn Kreativität und – nennen wir es ruhig so – Genie Hand anlegen. Und wer – außer eben Theoretikern – wollte sich noch den Kopf zerbrechen über Genres, wer wollte – so er nicht am Buchstaben des Musik-Gesetzes klebt – dem "Sketch" mit dem "Beaux Arts String Quartet" nicht auch Blues-Qualitäten, wer wollte andererseits beispielsweise dem Standard "Willow Weep For Me" von der LP "Fontessa" (!) in der Lewis-Jackson-Interpretation nicht auch Fugen-Format zugestehen?

Kopf und Bauch Hand in Hand

Viel ist im Laufe von mehr als 40 Jahren über das "Modern Jazz Quartet" geschrieben worden, auch und gerade in Deutschland, und dabei auch so einiges an Unfug. Was Wunder freilich auch: Eine Gruppe, die sich immer wieder zu derart intellektuellen Höhenflügen aufschwang, mußte fast zwangsläufig auch jede Menge Spintisierer und selbsternannte Philosophen anziehen. Lassen wir deshalb noch einmal Werner Burkhardt zu Wort kommen, dessen "Spiegel"-Würdigung zum Comeback von 1983 so mit das Vernünftigste darstellt, was in Deutschland – zumindest in den letzten 15, 20 Jahren – zu Papier gebracht worden ist: "Sie waren einst wie vom Himmel gefallen: John Lewis, der Pianist, Stückeschreiber und vornehm planende Kopf des Ganzen, Milt Jackson, sein Blues-Feuer speiender Antipode am Vibraphon, Connie Kay mit seinem die Perkussions-Gigantomanie von heute diskret vorwegnehmenden Schlagzeug-Aufgebot und der Bassist Percy Heath", definiert der langjährige Kenner die Charaktere und bringt das Geheimnis des Erfolgs auf den Punkt: "Nichts Vages umgibt die Gruppe. Ihre einmalige Kraft und Überzeugungskraft gewinnt sie sich aus zwei Spannungen, die in ihr angelegt und die einander ähnlich sind – aus dem Gegenüber von genau notiertem, nobel gebändigtem Abendland und den frei ausschwingenden Improvisationen des Jazz, aus der fruchtbaren Konfrontation des Kopfes Lewis mit dem Bauch Jackson".

Zuhören als Herausforderung

Sie gaben der Welt neue, bislang un-erhörte Klänge, doch Jazz ist – wie jede andere lebendige Kunstform auch – alles, nur keine Einbahnstraße, und so veränderte das "Modern Jazz Quartet" so ganz nebenbei und nahezu unmerklich im Laufe der Zeit auch die Hörgewohnheiten: "Sie mußten einfach ein Publikum finden, das bereit war, aktiv zuzuhören und sich tiefer einzulassen als nur auf oberflächliche akustische Reize", erläuterte bereits in den frühen 60ern Star-Jazz-Publizist Nat Hentoff die Herausforderung, die von Lewis, Jackson und dem rhythmischen Appendix ausging, "ihre Fusion war einmalig im Jazz: die zerbrechliche, fast hingehauchte Lyrik, die bisweilen tiefschürfende, bisweilen spielerische Polyphonie und schließlich das unerschütterliche Gefühl für die Wurzeln des Jazz. Das ‚Modern Jazz Quartet‘ brachte einem Publikum weltweit bei, wie man subtiler und intensiver, wie man mit Intelligenz und Gefühl zuhört."

Vier Jahrzehnte Institution

Das "Modern Jazz Quartet", nicht einfach eine Gruppe, sondern eine Institution für über vier Jahrzehnte, die, wenn sie auch nicht direkt den Gang der Jazz-Geschichte mitbestimmte – dazu war sie zu eigenständig profiliert –, so doch neue Maßstäbe setzte: "Lewis hat – wie kaum ein anderer – die Ausgewogenheit von Komposition und Improvisation auf einen Gipfel geführt, der seither nicht überboten wurde", resümiert denn auch Joachim Ernst Berendt in seinem Essay-Band "Ein Fenster aus Jazz", "erst seit ihm und durch ihn versteht es sich von selbst, daß eine Jazzaufnahme ein Ganzes, daß sie in sich geschlossen sein muß und nicht einfach eine Folge schöner Soli. Integration – ein Ausdruck, der durch ihn zu einem stehenden Terminus der Jazzfachsprache geworden ist" – eine Würdigung, die nicht nur die im Laufe der Jahrzehnte in den Archiven zu mittelschweren Stapeln angewachsenen Elogen auf den Punkt bringt, sondern ein Resümee aus vier Jahrzehnten, das in der Tat über die höchst erfolgreiche Vierer-Bande weit hinausweist. Und sollte auch – was freilich nicht zu vermuten steht – in vielen Jahrzehnten einmal der Name von Lewis, Jackson, Heath und Kay, der Begriff "Modern Jazz Quartet" nur noch Insidern geläufig sein, so ist doch ihr Vermächtnis – nämlich: den Jazz maßgeblich mit in die Kunstform überführt zu haben, die er mittlerweile und nicht erst seit gestern anerkanntermaßen ist – mehr als nur populäres Allgemeingut.

AUSGEWÄHLTE DISCOGRAPHIE


als Leader:

  • MJQ – Milt Jackson Quintet/Modern Jazz Quartet (Prestige/OJC, 1952/1954)

  • Django (Prestige/OJC, 1953-1955)

  • Concorde (Prestige/OJC, 1955)

  • The Modern Jazz Quartet (Atlantic, 1956)

  • Fontessa (Atlantic, 1956)

  • Sait On Jamais (Atlantic, 1958, Soundtrack "No Sun In Venice")

  • At Music Inn, Guest Artist: Sonny Rollins (Atlantic, 1958)

  • Pyramid (Atlantic, 1959/60)

  • Third Stream Music (Atlantic, 1959, u. a. m. Beaux Arts String Quartet)

  • The Modern Jazz Quartet feat. Laurindo Almeida (Atlantic, 1965, "Concierto d‘ Aranjuez" auf Sampler "Soleá: A Flamenco-Jazz Fantasy", ACT)

  • Blues On Bach (Atlantic, 1973)

  • The Last Concert (Atlantic, 1974)

  • Together Again – Montreux 1982 (Pablo)

  • Three Windows (Atlantic, 1987, m. New York Chamber Symphony)

  • MJQ 40 (Atlantic, 1952-1988, 4-CD-"Best Of..."-Box)

als Sidemen:

  • Paul Desmond: Paul Desmond With The Modern Jazz Quartet (CBS/Sony, 1971)