Eric Dolphy: Furchtloser
Pfadfinder des neuen Klangs

Den Bebop überführte er naht- und bruchlos in den Free-Jazz und baute so eine gang- und haltbare Brücke vom Gestern ins Morgen. Als Instrumentalist war er eine exponierte Stimme auf dem Alt-Saxophon, ließ die Flöte singen wie einen ganzen Schwarm von Frühlingsvögeln und küßte die Baß-Klarinette aus ihrem Dornröschenschlaf wach für den Jazz. Sein Zusammenspiel mit gleich drei der wichtigsten Richtungsgeber der 60er brachte nicht nur ihn, sondern auch sie weiter, und wo so mancher andere Avantgardist auch im persönlichen Umgang die Attitüde des "zornigen jungen Mannes" vor sich her schob, da nahm er durch seine Herzenswärme selbst Leute für sich ein, die seine Musik eigentlich gar nicht mochten: Eric Dolphy hätte noch jede nur denkbare Zukunft offengestanden, hätte nicht ein plötzlicher und unerwarteter Tod seinem Leben mit erst 36 Jahren ein viel zu frühes Ende gesetzt.

 

Der plötzliche Tod fern der Heimat

In der Regel finden der Jazz und seine Musiker nicht auf den Lokal-Seiten der Zeitungen statt, doch der 30. Juni 1964 war die Ausnahme von der Regel, denn die Beziehung Eric Dolphys zu Berlin und die Berlins zu Eric Dolphy ist von traurig-tragischer Natur, und die Blätter jeglicher Couleur waren in den nächsten Tagen voll von dem Ereignis: Am 27. Juni zu einem mit Spannung erwarteten mehrtägigen Gastspiel im damaligen "Tangente"-Club, der späteren "Jazz-Galerie" in der Wilmersdorfer Bundesallee, eingetroffen, absolvierte er nur mit Mühe zwei Sets und zog sich danach sofort in sein Hotel zurück. Zwei Tage später war Eric Dolphy tot, und wo man zunächst schwere Nervenstörung und Kreislaufkollaps diagnostiziert hatte, da stellte sich kurz darauf heraus, daß er – vermutlich, ohne es selbst zu wissen – schon längere Zeit unter der Blutzucker-Krankheit Diabetes gelitten hatte. Und es spricht für das damalige Berlin, daß schon wenige Tage darauf eine ganze Reihe lokaler Musiker ein Benefiz-Konzert und eine Sammlung organisierten, um die Überführung des mittellos gestorbenen Musikers in seine Heimat zu ermöglichen.

Zahlen, Daten, Fakten

Es war ein komprimiertes musikalisches Leben, das da am 20. Juni 1928 in Los Angeles seinen Anfang nahm: Schon als Kind fiebert Eric Allan Dolphy den Proben des Kirchen-Chors entgegen, in dem seine Mutter singt, und beginnt mit sieben Jahren, selbst Klarinette zu spielen, zu der später das Alt-Saxophon und schließlich die Flöte hinzukommen. Mit 13 schon Mitglied im Schul-Orchester, bekommt er ein zweijähriges Stipendium für die Southern California School Of Music und kommt dort über Platten von Fats Waller, Duke Ellington und Coleman Hawkins das erste Mal mit Jazz in Berührung. Während sein Vater die heimische Garage zum Übungsraum umbaut, formiert Dolphy 1944 mit 16 seine erste eigene Gruppe und nimmt bei einer Konzert-Flötistin Unterricht, die ihm mit barocker Flöten-Literatur auch einen fundierten Klassik-Background unter die Füße schiebt. 1949 macht er seine ersten Plattenaufnahmen als Mitglied von Roy Porters Big Band, bevor er von 1950 bis 1953 seinen Armee-Dienst absolviert, der ihn als Mitglied der Army-Band nach Fort Lewis im US-Bundesstaat Washington bringt, wo er außerdem auch mit dem Tacoma Symphony Orchestra auftritt. Wieder in Freiheit, macht Dolphy 1954 die Bekanntschaft John Coltranes und Ornette Colemans, leitet von 1954 bis 1956 die Gruppe "Eric Dolphy And His Men Of Rhythm" und beschäftigt sich zum ersten Mal mit der Baß-Klarinette, die später zu seinem Markenzeichen werden soll.

Im April 1958 dem Schlagzeuger Chico Hamilton empfohlen, erntet Dolphy als Mitglied von dessen Quintett auf dem Newport-Festival am 4. Juli erste begeisterte Kritiken, bevor er Hamilton im Dezember 1959 wieder verläßt und für rund ein Jahr bei Charles Mingus einsteigt. Endgültig zum New Yorker geworden, tritt Dolphy im Mai 1960 in Greenwich Village mit Ornette Coleman auf, mit dem er zum Teil simultan improvisiert, und rückblickend bescheinigt ihm der "Penguin Guide To Jazz On CD": "Ende 1960 nahm Dolphy Höhen in Angriff, von denen selbst Parker nur geträumt hätte."

Zum Jahreswechsel 1960/1961 ist der Name Eric Dolphy in aller Munde: Zahlreiche Artikel in den US-Fach-Magazinen "Down Beat" und "Metronome" beschäftigen sich mit dem "Shooting-Star" des neuen Jazz, und Dolphy rechtfertigt die Aufmerksamkeit, die man ihm schenkt – Platten unter eigenem Namen wie "Outward Bound", "Out There" oder "Far Cry" bestätigen ebenso wie seine Mitwirkung an Ornette Colemans Meilenstein-Album "Free Jazz" und Aufnahmen wie Auftritte mit John Coltranes Quartett nicht nur seinen hohen technisch-kreativen Standard, sondern lassen ihn zugleich immer weiter vordringen auf das Gebiet freierer Ausdrucksformen, die ihn bisweilen in die Nähe der Grenzen der Tonalität bringen. Sieger des "Down Beat"-"New Star"-Polls in der Kategorie Alt-Saxophon 1961 und in den Sparten "Flöte" und "Baß-Klarinette" in den darauffolgenden zwei Jahren, wagt sich Dolphy – stets und fast wie unter innerem Zwang auf der Suche nach noch weiter erweiterten Klang-Farben – unter anderem im Mai 1962 auf dem Festival von Ojai in Kalifornien an die Interpretation von Edgar Varèses kompliziertem "Density 21.5", bevor er im September Mitglied des Orchestra U.S.A. der beiden Kopf-Musiker John Lewis und Gunter Schuller wird, das die Synthese aus Jazz, Avantgarde und abendländischer Konzert-Klassik erprobt. Nach einem Zwischenspiel mit einer eigenen Gruppe und der Einspielung der neuerlichen Grenzüberschreitung "Out To Lunch", seinem einzigen "Blue Note"-Album, steigt Dolphy Anfang 1964 erneut bei Mingus ein und im Rahmen einer Europa-Tournee in Paris wieder aus, wo er sich dauerhaft niederlassen will, und als er am 29. Juni 1964 stirbt, erscheint plötzlich der Mitschnitt des Mingus-Konzerts vom April im Pariser "Théatre des Champs-Elysées" zugleich auch als fast so etwas wie das musikalische Testament des Musikers, der zwei Monate nach seinem Tod als posthume Anerkennung in die "Down Beat"-"Hall Of Fame" der Jazz-Klassiker gewählt wird.

Die nihilistischen Übungen des Anti-Jazz

"Die Welt ist voll von Menschen, die verurteilen, was außerhalb ihrer Vorstellungskraft liegt", legt Yukio Mishima seiner Protagonistin im einstigen Berliner Schaubühnen-Renner "Madame de Sade" die alte Erkenntnis mit neuen Worten in den Mund, und auch Eric Dolphy stieß mit seinen Auf- und Ausbrüchen – zumindest in der ersten Zeit – nicht überall auf ungeteilte Zustimmung: So mancher Alt-Fan, der mit Kid Ory und Fletcher Henderson groß und Benny Goodman und Glenn Miller, Tommy Dorsey, Artie Shaw und Harry James erwachsen geworden war und der schon die Bebop-Revolte wenn überhaupt, dann nur höchst un- und widerwillig zur Kenntnis genommen hatte, wandte sich endgültig und mit Grausen vom vermeintlichen Rückfall in Anarchie und Barbarei ab. Und selbst Teile der Fach-Kritik wie auch Kollegen fielen mit bisweilen recht harschen Worten über den – so Saxophonist und "Down Beat"-, "Swing Journal"- und "L. A. Weekly"-Autor Zan Stewart – "furchtlosen Pfadfinder des Jazz der Zukunft" her: Hatte Mitherausgeber John Tynan bereits im November 1961 in "Down Beat" befunden: "In Hollywods ‚Renaissance Club‘ wurde ich bei den nihilistischen Übungen John Coltranes und Eric Dolphys Zeuge einer entsetzlichen Demonstration eines anwachsenden Anti-Jazz-Trends", so griff US-Star-Kritiker Leonard Feather bereits kurz darauf den Begriff des "Anti-Jazz" begierig auf, um auf seiner Basis in mehreren Essays Coltrane, Dolphy, Ornette Coleman und den ganzen zunächst "New Thing" genannten Neuen Jazz in einem Aufwasch niederzumachen, wobei sich auch die Reaktionen der Leser zwischen begeisterter Zustimmung und entschiedener Ablehnung genau die Waage hielten. Und wo beispielsweise Bebop-Veteran Sonny Stitt über Dolphys "Far Cry" geurteilt hatte: "Nein, ich mag diese Platte nicht, sie tut meinen Ohren weh" und der Trompeter Freddie Hubbard Club-Besitzer mit den Worten zitierte: "Bring diesen Mann bloß nie wieder mit!", da wurde noch einmal die ganze Ablehnung deutlich, als Gunter Schuller im "Down Beat"-Nachruf vom 27. August 1964 erklärte: "Viele Musiker verstanden Eric nicht und standen seiner Arbeit kritisch gegenüber. Ich habe nie verstanden, wie angesehene Künstler behaupten konnten, Eric wüßte nicht, was er tut".

Provokationen auf der Basis der Tradition

Wenn bei der Festschreibung der Menschenrechte das Recht des Menschen, sich zu widersprechen, vergessen worden ist, so ist Leonard Feather eins der signifikantesten Beispiele für die absolute Notwendigkeit einer Verfassungsänderung, denn es war ausgerechnet der Mann, der zunächst die Keule des "Anti-Jazz" mit am heftigsten geschwungen hatte, der schon ein paar Jahre danach in seiner "Encyclopedia Of Jazz in The 60s" Dolphy zwar nicht in den höchsten, aber doch in hohen Tönen würdigte: "Sein Beitrag zur Entwicklung des Jazz und seine Bedeutung als Solist müssen erst noch ins Bewußtsein einer breiteren Mehrheit von Jazz-Hörern durchdringen", erklärte der Kritiker, und in der Tat: So heftig Dolphy auf der einen Seite bekämpft wurde, so viel Zuspruch erhielt er auf der anderen, wo ein jüngeres und aufgeschlosseneres Publikum auf Anhieb die Chancen erkannte, die die neue Freiheit bot, die er sich nahm. Und aus dem Rebellen von einst ist längst der Klassiker von heute geworden: "Erics großer, weiter Klang füllte den Raum wie die Sonne, die durch die Fenster strömte", erinnerte sich US-Kritiker Ira Gitler später an Dolphys Auftritt mit Chico Hamilton auf dem Newport-Festival 1958, "aber damals ließ sich noch kaum vorhersagen, daß hier einer der Bodenbesteller der neuen Musik der 60er auf der Bühne stand".

Doch freilich: Anders als die meisten anderen Bodenbesteller überschritt Dolphy nie die letzte Grenze: "Als in der Klassik versierter Musiker stellte er seine provokativen Neuerungen auf die Basis eines in der tonalen Tradition verankerten Jazz", attestiert Zan Stewart, während Bob Blumenthal den Grund der anhaltenden Faszination an anderer Stelle aufspürt: "Dolphy spielte mit einer leidenschaftlichen Hingabe, die seine Innovationen transzendiert, und dadurch fesselt seine Musik selbst nur beiläufige Jazz-Hörer", konstatiert der "Boston Phoenix"-Rezensent im "Rolling Stone Record Guide". Und für schlichte Gemüter schließlich reicht John Fordham den kleinsten gemeinsamen Nenner nach: "Dolphy verband Schroffheit mit Zartheit", befindet der britische Jazz-Publizist in seinem kunterbunten Bilderbuch "Jazz".

Mit Parkers Erbe in der Umspannstation

Das lange Schwanken im kurzen Leben des Eric Dolphy – ob er nun der letzte Vollender des Bebop oder einer der ersten Schrittmacher dessen war, was man zunächst als "New Thing" bezeichnete, bevor sich der Titel "Free Jazz" von Ornette Colemans Platte als genereller Stil-Begriff durchsetzte, wurde lange diskutiert, zumal er durch seinen frühen Tod kein abgeschlossenes, in sich geschlossenes Lebenswerk hinterlassen hat. Doch nicht erst aus der Rückschau kristallisiert sich das Bild von beidem in einem heraus, erscheint Dolphy als so etwas wie eine musikalische Umspann-Station, als einer der, wenn nicht sogar der Brückenbauer schlechthin zwischen dem inzwischen zur Tradition heran- und ausgereiften Parker-Erbe und eben jenem "New Thing": "Nicht zufällig fällt einem der Name Parker ein, wenn man an Dolphy denkt. Er verwandelte die revolutionäre Gebärde Parkers noch stärker in Schrei und Sprache", zog denn auch bereits die "Welt" in ihrem für das damalige Jazz-Verständnis in Deutschland äußerst einfühlsamen Nachruf am 1. Juli 1964 die direkte Linie nach.

Und keiner der zahlreichen Autoren, die seither je über Dolphy geschrieben haben, hat denn auch versäumt, immer wieder – direkt oder indirekt – auf Parker hinzuweisen: "Schon seine ersten Aufnahmen unter eigenem Namen stoßen ihn zwar in die ‚New Thing‘-Kontroverse, aber das konventionelle Hard-Bop-Format unterstreicht, daß man Dolphy genausogut als den sinnlichen Höhepunkt der Evolution des Bebop betrachten kann", stellt Bob Blumenthal im "Rolling Stone Record Guide" fest, Arrigo Polillo bescheinigt dem – so Zan Stewart – "musikalischen Visionär" in seinem Buch "Jazz – Geschichte und Persönlichkeiten der afroamerikanischen Musik", er habe "die Stile von Parker und Ornette Coleman irgendwie zu vereinen" verstanden, und Reclams sonst eher klischiert-nichtssagender "Jazz-Führer" läuft für und bei Dolphy zu in die Tiefe schürfender Hochform auf: "Er verschmolz die Einflüsse Charlie Parkers, der Marching Bands von New Orleans und der zeitgenössischen europäischen Kunstmusik zu einem eigenen Stil, der ebenso zu Formen des Free Jazz wie zu kammermusikalischem Zuschnitt führte" – eine Synthese, die am 25. Februar 1964 zu ihrem Höhepunkt kulminierte, von dem Produzent und "Blue Note"-Wiedererwecker Michael Cuscuna im Begleit-Text zum Foto-Band "The Blue Note Years – die Jazz-Fotografie von Francis Wolff" selbst mit dem Abstand von mehr als 30 Jahren nicht zu Unrecht noch ins Schwärmen gerät: "Wie brillant und originell Dolphy wirklich war, zeigte sich erst, als er ‚Out To Lunch‘ einspielte: Es war die erste ausgereifte Umsetzung von Dolphys unglaublich komplexen Kompositionen".

Bei "Trane" in festen Händen

Es war keine harte Hand, die sich, wie in Rilkes berühmtem Gedicht "Der Schauende", wie formend um ihn schmiegte – gleich vier – oder, wenn man so will – sechs Hände waren es, die Eric Dolphy Ziel und Richtung gaben, und sie waren nicht hart, aber fest – nicht zuletzt das ungleichschenklige Dreieck Mingus-Coleman-Coltrane förderte die Entwicklung des Musikers, dessen Nachruf die "Berliner Morgenpost" am 1. Juli 1964 unter die Überschrift stellte "Ein heller Stern erlosch". Und es war am 17. Mai 1961, daß sich Dolphy, hätte er auch sonst nichts gemacht, durch seine Mitwirkung auf "Free Jazz" von Ornette Coleman, der ihn in früheren Jam-Sessions stark beeinflußt hatte, seinen unverrückbaren Platz in der Jazz-Geschichte erspielt hätte. Doch Dolphy nahm nicht nur, er gab auch zurück: "Ich war mit meinem Quartett als Formierung eigentlich recht glücklich, aber Eric stieß dazu, und er war sofort ein neues Familien-Mitglied", gab John Coltrane am 12. April 1962 in "Down Beat" zu Protokoll, "er hatte einen anderen Weg gefunden, genau dasselbe wie wir auf unsere Art auszudrücken. Vom ersten Tag an hat er unser Spektrum verbreitert". Wobei der gemeinsame Background nicht unwesentlich gewesen sein dürfte, denn auch Coltrane hatte sich ja – ebenso wie Dolphy – erst aus der tonalen Tradition heraus an die freieren Ausdrucksformen herangearbeitet, und wo Dolphy auch nach seinem Ausscheiden aus der Gruppe "Trane" verbunden blieb und unter anderem die Groß-Komposition "Africa" instrumentierte, da haben die Zeugnisse der direkten Zusammenarbeit wie beispielsweise "Live At The Village Vanguard" oder "Olé" bis heute nichts von ihrer mitreißenden Eindringlichkeit verloren.

Zwiegespräche mit der Klammer Mingus

Wenn man so will, dann kann man Charles Mingus als so etwas wie eine musikalische Klammer im Leben Eric Dolphys betrachten, denn es war vor Coltrane und nach Coltrane noch einmal der eigenwillige Bassist, in dem der – so Joachim Ernst Berendt in seinem Standard-Werk "Das Jazz-Buch" – "große Avantgardist" einen adäquaten Partner gefunden hatte, und auch, wenn es Stimmen gibt, die besagen, daß sich Dolphy Mingus Anfang 1964 das zweite Mal anschloß, um durch ihn erneut nach Europa und zu seiner zeitweiligen Verlobten, der in Paris lebenden Tänzerin Joyce Mordecai, zu kommen, so dürfte das, wenn überhaupt, so mit Sicherheit nicht der einzige und erst recht nicht der ausschlaggebende Grund gewesen sein. Denn wo sich aus dem psychologischen Blickwinkel heraus die Konstellation des zu der Zeit oft unausgeglichenen und aufbrausenden Bassisten auf der einen und des scheuen und zurückhaltenden Multi-Instrumentalisten auf der anderen Seite als vielleicht widersprüchlich ausnimmt, da löst sich dieser Widerspruch auf der höheren Ebene des künstlerischen Gleichschritts fast von selbst schon wieder auf: "Dolphys Klang war so monumental wie der von Charlie Parker, und eigentlich war unsere gemeinsame Musik nichts als ein einziges ununterbrochenes Gespräch", zitiert Leonard Feather in seiner "Encyclopedia Of Jazz" den Bassisten, "er schreibt markante, herausfordernde Musik, und es ist eine Lust, mit ihm zu spielen", bekannte Dolphy im Gegenzug in einem Interview, und wo der "Penguin Guide To Jazz On CD" urteilt: "‚Out There‘ war Dolphys dankbarer Rückblick auf seine Zeit mit Mingus, mit dem ihn die wohl engste künstlerische Partnerschaft verbunden hatte", da stellt Berendt lapidar fest: "Die Zwiegespräche, die Mingus auf dem Baß und Dolphy auf der Baß-Klarinette führten, gehören zu den emotional stärksten Erfahrungen, die der Jazz überhaupt vermitteln kann".

Von Vögeln lernen heißt spielen lernen

Alt-Saxophonisten gab und gibt es eine ganze Menge, die Zahl der Flötisten hingegen ist schon kleiner, und wenn Kritiker bisweilen in Dolphys Spiel neben so manchem anderen auch das Singen von Vögeln hörten, so hörten sie damit gar nicht einmal so falsch: "Beim Üben haben mich oft Vögel begleitet. Dann habe ich aufgehört mit dem, was ich gerade übte, und habe mit den Vögeln gespielt", gab der Wanderer zwischen den Instrumenten 1962 in "Down Beat" einen Blick auf frühe Inspirationen frei, "und meine Viertel-Töne habe ich ihnen auch abgelauscht – sie haben Noten, die zwischen unseren Noten liegen, und ich versuche, das zu imitieren, was sie von Natur aus tun".

Vor allem jedoch die Baß-Klarinette war es, die der zupackende Träumer auf bis dahin noch nie und auch seither nur selten wieder erreichte Höhen geführt hat und ohne die beispielsweise Benny Maupins hintergründig-mystisches Raunen auf Davis’ "Bitches Brew" wohl kaum denkbar gewesen wäre – zu sperrig und ungelenk schien bis Dolphy das Instrument, das im Gegensatz zur von New Orleans bis zum Swing durchaus gängigen "normalen" Klarinette wenig von der Schmiegsamkeit und Beweglichkeit anderer Klappen-Instrumente besitzt, sich eher in der Exoten-Ecke irgendwo zwischen Oboe und Fagott fand und ebenso wie diese ausschließlich im klassischen Bereich angesiedelt war. "Dolphy fand eine Lösung des Dilemmas der Klarinette, die einfach nicht in das ‚saxophonisierte‘ Klangbild des modernen Jazz hineinzupassen schien", definiert denn auch Berendt, "er machte ein Jazz-Instrument aus der Baß-Klarinette – mit zerrenden, wilden Emotionen und Expressionen, mit einer auch physisch ungeheuren Kraft, die seinen Hörern das Gefühl gab, er spiele ein völlig neues Instrument." Und wo Berendt noch eher nüchtern-sachlich analysiert, da fand einst Don Heckman eine Metapher, wie sie Dolphys Spiel wohl nicht treffender umschreiben könnte: "In seinen Händen hatte die Baß-Klarinette die Lebendigkeit einer Schlange, die sich vor Vitalität ringelte", urteilte der Star-Schreiber des Blattes am 8. Oktober 1964 in einem eigenen Gedenkartikel in "Down Beat", "eins seiner Charakteristika war seine kontinuierliche Perfektion eines fast sprechbaren Vokabulars von Klängen, und seine Glissandi, die an Schreie erinnerten, seine knackig artikulierten, fast gesprochenen Passagen und seine grellen Explosionen von verwischten Noten waren Embleme".

Himmelssturm mit Herzensgüte

Es war die Zeit des neuen Expressionismus im Jazz, in die sich Dolphy einfügte wie das fehlende letzte Stück eines 1000-Teile-Puzz- les, denn so, wie ein paar Jahrzehnte zuvor in der Malerei die heftigen Pinselstriche Kirchners oder Schmidt-Rottluffs die Reaktion waren auf die schal gewordenen Idyllen im Gefolge von Monet und Renoir, so waren Ornette Coleman und Archie Shepp, Pharao Sanders und eben auch Eric Dolphy die Antwort auf den mittlerweile zumindest zum Teil im Klischee erstarrten Cool von Gerry Mulligan und Chet Baker, Lennie Tristano und Lee Konitz, Dave Brubeck und Paul Desmond. Mehr noch: Wo sich durch das gelähmte Entsetzen angesichts zweier bis an die Zähne mit Weltvernichtungs-Potential bewaffneter Machtblöcke in den Staaten die öffentliche Diskussion verstärkt wieder inneren Problemen zuwandte, da blieb auch der Jazz – wie jede andere lebendige Kunstform immer auch zugleich Spiegel wie Zerrspiegel der ihn umgebenden Verhältnisse und Strömungen – davon nicht unberührt, und als Dolphy 1964 mit "Out To Lunch" seine radikalste Platte aufnahm, da war es gerade erst sieben Jahre her, daß in Little Rock die Nationalgarde noch schwarze Kinder zum Schutz vor dem weißen Pöbel zur Schule geleiten mußte, und noch ein weiteres halbes Jahr hin, bevor das Bürgerrechts-Gesetz unterzeichnet wurde, das in den Südstaaten die Rassentrennung in den Schulen aufhob. Doch im Gegensatz zu manchem anderen Kollegen, der als oppositionelles Gesamtkunstwerk seine Anti-Haltung auch im persönlichen Auftreten demonstrierte, zog der – so die "Welt" in ihrem Nachruf – "aufrichtige Vertreter der Avantgarde, der sich nie wichtig machte", eine deutliche Trennlinie zwischen dem Musiker Eric Dolphy und dem Menschen Eric Dolphy: "Wer diesen großen Musiker persönlich gekannt hat, kann den Eindruck gewinnen, daß sein Flötenspiel mehr von seiner Persönlichkeit – seiner Liebenswürdigkeit und Verbindlichkeit – vermittelte als die berstende Ausdrucksfülle seines Alt-Spiels oder die Schmerzgeladenheit seiner Baß-Klarinetten-Improvisationen", wirft denn auch Berendt im "Jazz-Buch" einen Blick auf die inneren Zusammenhänge von Spiel und Charakter, "in den sieben oder acht Jahren, die ich Eric kannte, habe ich nie ein heftiges Wort von ihm gehört", betonte Gunter Schuller im "Down Beat"-Nachruf vom August 1964, und Saxophonist und Kritiker Zan Stewart schließlich befand: "Jeder, der mit ihm zusammen kam, und selbst Leute, die seine Musik nicht mochten, entdeckten eine Person, von der Herzensgüte und Großmut ausgingen".

Vor der letzten Grenze haltgemacht

Eric Dolphy, der unaufdringliche Avantgardist und Mit-Gründervater des freien Jazz der 60er, der freilich den entscheidenden letzten Schritt über die Grenze der Tonalität nie vollzogen hat und über den es ebenso reizvoll wie müßig ist zu spekulieren, wohin ihn sein Weg noch geführt hätte, wäre er nicht schon mit 36 Jahren gestorben – "ich höre ununterbrochen etwas, das noch hinter dem liegt, was ich bis jetzt gespielt habe. Da ist immer noch etwas, um das es zu kämpfen gilt. Mir ist, als würde ich nie aufhören, Klänge zu finden, von denen ich bis jetzt gedacht habe, sie würden gar nicht existieren", hatte er selbst noch kurz vor seinem Tod erklärt; der Dreifach-Instrumentalist, ohne dessen sinnliche Experimente auf der Baß-Klarinette vielleicht auch ein Charlie Mariano später nicht den Mut gefunden hätte, die Oboe in den Jazz einzuführen; der Musiker und "Recording Artist", dessen "Out To Lunch" beispielsweise für den "Penguin Guide Of Jazz On CD" zu der Handvoll von Nachkriegs-Platten gehört, die für den Jazz essentiell sind.

Die wohl kürzeste und zugleich prägnanteste Würdigung Eric Dolphys freilich stammt aus dem Munde des Mannes und Musikers, der ihn vermutlich besser kannte als jeder andere: "Was immer ich sagen könnte, wäre nur untertrieben", bekannte ein zutiefst erschütterter John Coltrane im "Down Beat"-Nachruf vom 27. August 1964, "er war eine der größten Persönlichkeiten, die ich je kennengelernt habe – als Mensch, als Freund und als Musiker".

AUSGEWÄHLTE DISCOGRAPHIE


als Leader:

  • Outward Bound (Prestige/OJC, 1960)

  • Far Cry (Prestige/OJC, 1960)

  • Out There (Prestige/OJC, 1960)

  • Eric Dolphy In Europe (Prestige/OJC, 1961)

  • The Complete Prestige Recordings (9-CD-Box/OJC, 1960/1961)

  • Out To Lunch (Blue Note, 1964)

als Sideman:

  • Candid Dolphy (Candid, 1960/1, m. Charles Mingus, Max Roach, Booker Little)

  • Ron Carter: Where? (Prestige/OJC, 1961)

  • Charles Mingus: Reincarnation Of A Love Bird (Candid, 1960)

  • Charles Mingus: Mingus At Antibes (Atlantic, 1960)

  • Charles Mingus: Mingus Mingus Mingus (Impulse, 1963)

  • Charles Mingus: The Great Concert, Paris 1964 (Accord)

  • Ornette Coleman: Free Jazz (Atlantic, 1961)

  • John Coltrane: Olé (Atlantic, 1961)

  • John Coltrane: Live At The Village Vanguard (Impulse, 1961)

  • John Coltrane: The Other Village Vanguard Tapes (Impulse, 1961)

  • John Coltrane: Africa/Brass (Impulse, 1961)